Repräsentativität

Die Diskussion zum Volksentscheid zum Minarettverbot in der Schweiz lässt mir keine Ruhe (s. hier und hier). Es ist schließlich in vielerlei Hinsicht ein interessantes Thema, da es viele Nebenschauplätze aufmacht: Islamphobie, Sinn und Gefahr von direkter Demokratie, Religionsfreiheit, Offenheit der Schweiz, Völkerrecht und empirische Sozialforschung.

Das letztgenannte interessiert mich jetzt besonders, denn die Umfragen zu potentiellen Abstimmverhalten der deutschen Bevölkerung werden immer mehr (s. welt.de, zeit.de). Und immer wieder wird erwähnt, dass die vorhergehenden Umfragen in der Schweiz ein Meinungsbild zeichneten, welches im Endeffekt nicht dem Abstimmungsergebnis entsprach – und das obwohl sie repräsentativ gewesen sein sollen.

Was aber bedeutet das: Repräsentativität? – Wenn das Ergebnis einer Studie repräsentativ sein soll, dann heißt das schlicht: das Ergebnis soll für die Grundgesamtheit sprechen. Im Fall des Schweizer Minarettverbots besteht diese Grundgesamtheit aus allen Abstimmunsgberechtigten. Das bedeutet, man könne davon ausgehen, dass die Abstimmenden in etwa so abstimmen wie die Studie vorhersagt.

Wie kann es aber sein, dass in den Umfragen laut spiegel.de von 51% Verbotsgegnern gesprochen wurde, wenn es tatsächlich nur 43% gegenüber 57% Verbotsbefürwortern (s. taz.de) waren? Selbst die Unentschlossenen, die es sich nach der Befragung noch anders überlegten, konnten das Ruder nicht derart drastisch herumgerissen haben.

Tatsächlich könnte es sein, dass die Umfragen nicht repräsentativ waren. Denn wenn 100.000 Menschen befragt werden, hat man nämlich noch keine Repräsentativität erreicht, wenn die Befragten z. B. alle Rentner sind. Eine Umfrage unter 1.000 Menschen könnte da viel aussagekräftiger sein, wenn sichergestellt ist, dass sich die Befragten ebenso zusammensetzen wie die Grundgesamtheit (Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Religion etc.)

Auch wenn es vielleicht irrsinnig klingt, so ist es auch denkbar, dass die Abstimmenden nicht repräsentativ für die Bevölkerung sind. Als es noch kein Frauenwahlrecht gab, war das z. B. stets der Fall. Auch jetzt ist das noch so, denn man muss ein bestimmtes Alter haben, um abstimmen zu dürfen. Gut, da war jetzt ein kleiner Trick in meiner Argumentation, denn ich habe mal eben die Grundgesamtheiten gewechselt: von  Abstimmungsberechtigten bin ich zur Bevölkerung übergegangen. Wie dem auch sei, auch die Abstimmenden können nicht repräsentativ für die Abstimmungsberechtigten sein, z. B. wenn der Anteil der Rentner/Arbeitslosen/Schwiegereltern/Hochschullehrer bei der Abstimmung größer ist als ihr tatsächlicher Anteil bei den Abstimmungsberechtigten. Da die Wahl geheim ist, findet man die Zusammensetzung der Abstimmenden jedoch nicht wirklich heraus.

Schließlich gibt es aber auch noch einen weiteren Grund, warum die Umfrageergebnisse nicht gestimmt haben: nicht alle Befragten haben ehrlich geantwortet.  Eines der stärksten Ursachen für solch unehrliches Verhalten bezeichnet man als Einfluss der sozialen Erwünschtheit. Ein Befragter antwortete bei der Minarettfrage demnach eher mit einem „Nein“ zum Minarettverbot, weil er/sie meint, diese Antwort würde gesellschaftlich eher akzeptiert sein und ein „Ja“ würde zu sozialer Ablehnung führen. Erst die Anonymität in der Wahlkabine gab diesen Menschen die Sicherheit ihre wahre Meinung ohne Angst auf Repression abzugeben.
Und das muss man sich jetzt mal auf der Zunge zergehen lassen: diese Menschen hatten Angst bei der Umfrage die Wahrheit zu sagen. Wenn das tatsächlich zu derartigen Verzerrungen geführt haben soll, dann stellen sich sogleich eine Reihe neuer Fragen:

Hatten sie Angst, sie würden von Moslems bedroht, wenn sie sich als Verbotsbefürworter outen?
Hatten sie Angst, sie würden von anderen Verbotsgegnern bedroht werden?
Oder hatten Sie vielleicht einfach nur so ein Bauchgefühl, das ihnen sagte, solch ein Verbot ist falsch/unsittlich?